Allgegenwärtig und unberechenbar – Gruppendruck

Kennen Sie das berühmte Bild, auf dem August Landmesser seine Hand nicht hebt? «Nichts ist ungewöhnlich an einem Mann, der seine Hand nicht hebt», würden Schüler vermutlich antworten. Aber dieses Bild ist außergewöhnlich, weil die tausend Menschen, die um August Landmesser stehen, die Hand zum Hitler-Gruß heben.

Dass er seine Hand Hitler nicht entgegenstreckt, der an diesem 13. Juni 1936 anwesend ist, hat vermutlich nicht nur einen Grund. Ausschlaggebend ist seine Liebe zu Irma. Bereits einige Jahre zuvor lernt er die Jüdin Irma Eckler kennen und lieben, und so bröckelt die Fassade eines Menschen, der vorher ein überzeugter Nationalsozialist war. Ist es nicht erstaunlich, wozu die Liebe zu bewegen vermag? «Ganz normal», mögen Sie sagen, denn jeder von uns kennt Situationen, in denen wir für das, was uns wichtig ist und was wir lieben, eingestanden sind. Auch wenn es gegen die Meinung anderer ging. «Sobald Menschen in Gruppen zusammenkommen und dort miteinander interagieren, werden Kräfte frei: Sympathie und Antipathie, Solidarität und Rivalität, Vereinzelung und Cliquenbildung, Vertrauen und Fremdeln.», sagt Schulz von Thun. (Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden von A bis Z, Lexikon der Kommunikationspsychologie, Seite 84)

Wir wollen dazugehören

Wir alle sind ein Teil von Gruppen. Ob in einem Verein – etwa bei der Freiwilligen Feuerwehr, in der Strickgruppe oder beim jährlichen Familienfest; ganz automatisch werden wir Teil davon und finden darin unsere Rolle oder bekommen sie zugeteilt.

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Hochzeit Ihres besten Freundes geladen. Der Gottesdienst hat es Ihnen angetan: Sie sind hin und weg von der schönen Musik und der liebevollen Dekoration in der Kirche. Nach dem Gottesdienst stehen Sie in einer Gruppe mit Ihnen unbekannten Freunden der Braut. Sie bekommen ein Kompliment für Ihr Outfit. Das Gespräch entwickelt sich und Sie empfinden Sympathie für Ihr jeweiliges Gegenüber. Schön, wie man ganz grundlegende Werte teilt und befürwortet.

Doch dann geschieht es: Einer von denen, die in der Runde stehen, lässt einen negativen Kommentar zum Gottesdienst fallen: «Was hat sich der Klavierspieler nur bei dem Stück für den Auszug gedacht? Das war wirklich unpassend und hat die ganze Atmosphäre zerstört.» Einige andere pflichten bei und scheinen sich gegen den Klavierspieler verschworen zu haben. Es hätte so schön sein können. Sie beginnen, sich unwohl zu fühlen. Sollen Sie sich dazu äußern? Den anderen deutlich machen, dass Sie das anders sehen bzw. Partei für den Pianisten ergreifen? Sie kennen weder ihn noch die Gesprächspartner in besagtem Kreis. Sie fühlen sich zugehörig, wollen gefallen. Da muss sich doch jetzt nichts dazwischendrängen, oder? In solchen Momenten ist man bewusst oder unbewusst damit konfrontiert, sich zu positionieren. Je nachdem, wie stark die Bindung zur Gruppe ist, kann es sein, dass man den wahren Standpunkt verleugnet und anderen beipflichtet bzw. sich nicht zu Wort meldet, um seine Position darzulegen.

Wenn wir von Gruppendruck sprechen, denken wir vermutlich an unsere Schulzeit oder die Kindheit zurück. Doch auch im Erwachsenwerden und -sein sind wir fortwährend damit beschäftigt, dem Druck, dazuzugehören, nicht abgelehnt zu werden und Teil von etwas zu sein, nachzugeben. Mitunter sind wir sogar bereit, uns selbst und unsere Werte und Prinzipien zu verraten, um Teil einer Gruppe zu sein bzw. Gemeinsamkeiten und nicht die Differenzen in den Vordergrund zu stellen.

Anerkennung um jeden Preis?

Hier ist zwischen Anpassung, Flexibilität oder dem Leugnen dessen, was uns wichtig ist und uns vielleicht ausmacht, zu unterscheiden.

Ich denke, wir müssen nicht von Verrat unserer Werte sprechen, wenn wir auf die Frage, wie das Essen geschmeckt hat, ein Kompliment machen, auch wenn uns Champignons grundsätzlich nicht munden. Es ist durchaus legitim und sogar wichtig, dass wir in der Lage sind, uns einer Gruppe anzupassen. Nur so kann ein Miteinander funktionieren. Dagegen besteht die Gefahr, dass wir bei einer Verleugnung – also einer grundlegenden Verhaltensänderung bzw. einer uns gravierend entgegengesetzten Haltung – gegen unser eigenes Wesen streiten und darüber hinaus für etwas geliebt, gemocht und wertgeschätzt werden, was wir gar nicht sind. Denn wie wir bereits festgehalten haben, wollen wir gemocht und anerkannt werden. Doch was ist diese Anerkennung wert, wenn wir für ein Verhalten gemocht werden, das wir nur aufgesetzt haben bzw. spielen, um damit andere zu begeistern? So finden wir uns im Szenario wieder, uns ganz anders zu verhalten, als wir das sonst tun würden.

Unwohlsein und Unbehagen sind Indizien dafür, dass wir uns nur anders verhalten, um dem Gegenüber zu gefallen. Auch bei Kindern und Jugendlichen ist dies zu beobachten. Gegenüber Freunden zeigt man sich cool, doch sobald die Eltern dabei sind, entstehen eine Art Scham und ein Konflikt. Wie kann man sich verhalten, um die Eltern nicht vor denKopf zu stoßen, aber auch seine Stellung den Freunden gegenüber nicht zu verwirken? Im Extremfall bedeutet dies, dass diese Spannung zu einem Identitätsverlust führt und man sich wie eine Fahne im Wind nach jedem Luftstoß neu ausrichtet.

Wussten sie das?

Auch bei geringerem Sachverhalt läuft es so ab. Wir werden beispielsweise gefragt: «Wusstest du, dass die kleine Kuhle zwischen Mund und Nase Philtrum heißt?» und bestätigen dies mit einem selbstverständlichen Kopfnicken. Glücklicherweise hat uns unser Gegenüber die Antwort ja bereits verraten …

Neben der Tatsache, dass wir gerne dazugehören, geben wir uns ungern als Unwissende. Fragt unser Gegenüber nicht weiter nach und handelt es sich dabei lediglich um Wissen, das man im Anschluss an eine Konversation wieder vergessen kann, scheint das alles nicht dramatisch. Und doch verändert sich in uns etwas. Wir selbst sind uns des «Betruges» bewusst und schwächen somit unseren eigenen Selbstwert. Bedenklich ist dabei, dass diese Prozesse nach außen gar nicht sichtbar sind und wir ein Bild abgeben, das nicht der Wahrheit entspricht. Es werden uns Kompetenzen zugesprochen, die wir gar nicht besitzen, und wir verwirken somit auf Dauer möglicherweise auch eine Chance, Lernende zu sein. Ganz nebenbei: Wissen Sie eigentlich, wie man das vordere, hohle Ende eines Löffels nennt?

Zwei Richtungen- ein Ergebnis

Gruppendruck funktioniert in beiderlei Richtungen: Er kann uns dazu bringen, etwas zu tun, was wir eigentlich nicht wollen. Oder uns abgewöhnen, etwas nicht zu tun oder zu sagen, was wir eigentlich wollten. In beiden Fällen entsteht ein Druck, der sich vor allem in uns aufbaut und nicht nur unser seelisches Gleichgewicht schwächt, sondern auch dazu führen kann, dass wir uns selbst nicht mehr leiden können.

Wer ständig gegen seine eigenen Überzeugungen streitet, wird letztlich müde, sich an sie zu halten. Eltern kennen das: Wenn wir unsere Kinder immer nur ermahnen und ihnen drohen, aber unsere angedeuteten Konsequenzen nicht umsetzen, wird das Kind uns langfristig nicht mehr als Autoritätsperson wahrnehmen und den Respekt und letztlich auch die Beziehung zu uns verlieren. Wenn wir mit uns selbst streiten, geschieht Folgendes: Wir nehmen uns schlussendlich nicht mehr ernst und verlieren die Glaubwürdigkeit in uns selbst.

Authentizität mir selbst gegenüber

Wie wir bereits oben erkannt haben, ist eine gewisse Anpassung vonnöten, damit ein Zusammenleben gelingen kann. Doch sollten wir uns darüber im Klaren sein, wie wichtig uns eine Sache ist. Nehmen Sie sich die Zeit, darüber nachzudenken, was für Sie bedeutsam ist, wenn Sie alleine bzw. in Gesellschaft sind, in der Sie sich wohlfühlen! Da, wo Sie ganz Sie selbst sein können und nicht fürchten müssen, für Ihre Haltung oder Aussagen nicht gemocht zu werden. Beobachten Sie weiter, wo und bei welchen Gelegenheiten Sie sich verstellen müssen, um Teil einer Gruppe zu sein! Bereits kleine Indikatoren sollten hinterfragt werden:

  • Bin ich bei bestimmten Personen darauf bedacht, meine Wohnung in einem Zustand zu präsentieren, den sie normalerweise nicht aufweist?
  • Mache ich mir beim Zusammentreffen mit bestimmten Gruppen oder Personen weitaus mehr Gedanken über mein Outfit als sonst?
  • Fühle ich mich erschöpft und ausgelaugt, wenn ich mit bestimmten Leuten zusammen war?

Das Zusammensein mit Gruppen und Menschen sollte vor allem dazu dienen, das Miteinander und damit auch sich selbst zu stärken. Achten wir deshalb darauf, uns im Zusammentreffen mit anderen auch selbst Liebe zuzusprechen, indem wir so handeln und uns so äußern, wie wir tatsächlich sind! Dies gibt uns und anderen die Chance, uns so zu lieben, wie wir sind, und darüber hinaus in Dialoge zu treten, die uns wachsen und die Haltung aller Beteiligten hinterfragen lassen. Und eine Sache scheint mir in diesem Zusammenhang noch wichtig: Wir müssen nicht die ganze Welt auf unsere Seite bringen! Das vordere, hohle Ende des Löffels nennt man übrigens «Laffe». Ich habʼs auch nicht gewusst.

Ben Bornowski

Pastor mit Schwerpunkt Jugendarbeit

Leben & Gesundheit Ausgabe 5/2021