Kinder zu verantwortungsvollen Menschen erziehen

«Das Leben ist kein Ponyhof, es geht nicht nach Lust und Laune! Übernimm endlich Verantwortung!» «Na und? Ist mir doch egal!» Rums! Die Tür fliegt ins Schloss. Anna wirft sich aufs Bett. Ihr wütendes Herz pocht bis zum Hals. Warum sind die Erwachsenen solche Leuteschinder? Verantwortung – dieses Wort wirkt auf manche Heranwachsende wie ranziger Quark. Muss das so sein? Wie entdecken unsere Kinder, dass Verantwortung zum Glück dazugehört?

Zeige mir, wie es geht!

Kinder sind kompetente Selbstlerner. Lisa hat Fieber, alle anderen Termine werden zurückgestellt; Lisa beißt andere Kinder, die Mutter versucht sie zu lenken; Lisa kommt in die Schule, die ganze Familie feiert dieses Ereignis. So erlebt Lisa Fürsorge und Verlässlichkeit und erhält eine Landkarte für soziale Verantwortung. Erlebt sie auch, dass die Eltern für ihre eigenen Entscheidungen, Taten und Gefühle einstehen, bekommt sie einen Kompass für Eigenverantwortlichkeit. Verantwortung hat auch viel mit persönlichen Werten zu tun, die wir den Kindern vorleben. Vielleicht ist uns Ehrlichkeit sehr wichtig oder Rücksicht oder Hilfsbereitschaft oder eine ordentliche Wohnung. Aber warum räumt Markus dann sein Kaugummipapier nicht weg? Kinder steigen nicht automatisch in unser «Verantwortungskonzept» ein. Sie wollen selbst herausfinden, was ihnen wichtig ist.

Lass mich bei mir selbst beginnen!

Winzlinge entscheiden schon, wie viel sie essen, was sie spielen, was ihnen gefällt. Sie sitzen am Steuer – bildhaft gesprochen, aber sie fahren auch ohne Bedenken bei Rot über die Kreuzung. Noch zählt nur der momentane Impuls. Der einjährige Moritz wirft dem Onkel ein Buch an den Kopf. Die Eltern fühlen sich verantwortlich. Sie entschuldigen sich. Dennoch hat das Kind gehandelt. Eigenwirksamkeit ist eine wichtige Antriebskraft in der Entwicklung. Wir können sie nutzen, ohne das Etikett «böse» zu verwenden. «Moritz, das hat dem Onkel wehgetan. Wir tun uns nicht weh. Komm, wir streicheln ihn.» Kinder erliegen auch oft ihren Allmachtsfantasien. Ein Dreijähriger häuft sich einen Mount Everest von Spaghetti auf den Teller, und ein Achtjähriger denkt, er könne seine Hausaufgaben drei Minuten vor dem Abendessen erledigen. Unrealistische Ziele zeigen, dass ein Kind noch übt, sich selbst und das Leben richtig einzuschätzen. Auf diese Fehleinschätzungen mit Strafe zu antworten, bringt das Kind nicht weiter. Zeigen wir ihm, dass wir an seine Lernfähigkeit glauben und es dabei unterstützen wollen!

Nimm mich als Gegenüber ernst!

Oscar lässt konsequent seine Schultasche an der Wohnungstür fallen und räumt sie erst weg, wenn seine Mutter ausflippt. Die Mutter ist verzweifelt. Warum gehorcht Oscar nicht? Oscar ist verantwortlich für sein Handeln, aber ebenso ist es die Mutter. Durch das Verhalten von beiden entsteht ein tägliches Ritual. Man kann von einer «dialogischen Verantwortung» sprechen. Solche kleinen Machtkämpfe sind in vielen Familien an der Tagesordnung. Fragen wir uns: Geht es darum, dass Kinder tun, was wir sagen, oder dass sie ihren Teil der Verantwortung übernehmen? Kein Kind ist gern Befehlsempfänger, aber es wird für die Ziele der Erwachsenen benutzt. Wer Befehle ausführt, ist ja auch nicht wirklich verantwortlich. Kinder lernen Verantwortung, wenn wir sie als eigenständige Persönlichkeiten betrachten und ernst nehmen.

Trau mir Verantwortlichkeit zu!

Eltern denken oft: «Wenn ich mein Kind nicht steuere und kontrolliere, wird es scheitern.» Dabei sind Verantwortung und Vertrauen wie unzertrennliche Schwestern. Zurück zu Oscar: Die Mutter kann vorleben, wie sie mit ihrer Verantwortung umgeht: «Oscar, ich habe ein Problem, wenn deine Schultasche an der Tür liegen bleibt. Ich schimpfe dann herum, das tut mir leid. Wie geht es dir damit? Ich würde gern mit dir eine Lösung für das Problem finden. Hast du eine Idee?» Sobald Oscar mit der Mutter nach Lösungen sucht und verhandelt, übernimmt er seine Verantwortung. Er fühlt sich ernst genommen und wird seinen Teil dazu beitragen. Klappt es nicht beim ersten Anlauf, bekommt die Sache eine zweite Chance.

Nimm mir die Angst vor Fehlern!

Wir Menschen machen Fehler. Alle. Das ist eine Botschaft, die Kinder brauchen. Natürlich haben Fehler auch Folgen, z. B. eine zerbrochene Scheibe oder ein zerrissenes Buch. Meist fühlen wir uns in der Pflicht, Kinder zu bestrafen, wenn sie etwas beschädigt haben. Leider lernen Kinder durch Maßnahmen, die bedrücken und demütigen, etwas anderes als Verantwortung: Ausreden erfinden, Verhalten vertuschen, anderen die Schuld zuschieben. Die Angst vor Schuld und Scham ist eine starke Macht, die uns bis ins Erwachsenenalter hinein beeinflussen kann, weil wir jeden Fehlschlag als unerträgliche Demütigung fürchten. Wenn aber Kinder erfahren, dass sie sich zu einem Fehler bekennen dürfen, ohne ihre Selbstachtung zu verlieren, und zur Wiedergutmachung etwas beitragen können, werden sie auch leichter Verantwortung übernehmen.

Zeige mir die positive Seite von Verantwortung!

Beim Fahrradfahren benutzen Kinder oft noch Stützräder, aber sie wollen diese Dinger natürlich so bald wie möglich loswerden! Genauso unterstützen wir Kinder auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Kinder lieben es, sich als Kapitäne ihres Lebens zu fühlen. Das ist die positive Seite der Verantwortung. Verantwortlichkeit ist keine Zwangsjacke, sondern eine Quelle innerer Stärke. «Jede tapfer getragene Verantwortung gibt ein Gefühl der Beglückung» (Eduard Spranger, deutscher Philosoph, 1882 – 1963). Es geht um einen inneren Kompass, um Standvermögen und Wertgefühl. Geben wir unseren Kindern doch ermutigende Rückmeldungen: «Ich erlebe dich als sehr zuverlässig!» «Ich finde es bemerkenswert, dass du bereit warst, mit mir über unser Problem zu verhandeln!» «Du hast gestern auf deine Gute-Nacht-Geschichte verzichtet, weil Gäste da waren. Das war sehr rücksichtsvoll. »

Lass mich am Leben lernen!

Kleine Kinder sind stolz, wenn sie Teller und Besteck ins Wohnzimmer tragen dürfen. Mit sechs Jahren haben sie keine Lust mehr dazu. Wenn wir aber dem Lustprinzip das Feld überlassen, werden die Kinder nicht glücklich, sondern abhängig und unselbstständig. Kinder möchten wichtig sein. Das sollten wir nutzen und gegen alle Ich-habe-keine-Lust-Proteste ihren Beitrag einfordern: «Du bist ein wichtiges Mitglied der Familie. Welche Aufgabe könntest du übernehmen?» Die Mithilfe der Kinder im Haushalt sollte mehr und mehr auf der Grundlage eines Eltern-Kind-Paktes erfolgen. Dazu gehören gemeinsame Vereinbarungen, die auch Konsequenzen nach sich ziehen, wenn die Aufgabe versäumt wurde. So wachsen Kinder in eine verantwortliche Rolle im Familienbund hinein.

Sieh mich, wie ich wirklich bin!

Kinder treffen auch Entscheidungen, die Eltern nicht mögen. Manchmal wollen sie damit einfach nur zeigen, dass sie selbst entscheiden können und kein Erwachsener das Projekt «Perfekte Familie» auf ihrem Rücken austragen soll. Anna reagiert auf die Ermahnung «Das Leben ist kein Ponyhof! Übernimm Verantwortung!» wütend und verzweifelt. Keiner versucht, ihre Gefühle zu verstehen und sie als Gegenüber wahrzunehmen. Sie erlebt die Ermahnung als Abwertung. Kinder müssen aber wissen, dass wir sie wertschätzen und uns ihre Ansicht interessiert. Deshalb bleibt eine gute Beziehung die unverzichtbare Basis für alles Lernen, auch für das Lernen von Verantwortung.

Ulrike Müller

Dipl. Sozialpädagogin

Leben & Gesundheit Ausgabe 5/2015