Einsamkeit

Menschen sind von Natur aus soziale Wesen

Unser Gehirn und unser Körper sind dazu gemacht, in Gemeinschaften zu funktionieren, nicht in Isolation. Wissenschaftliche Befunde weisen darauf hin, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen Liebe, Vertrautheit und soziale Bindungen als die zentralen Säulen des Glücks versteht. Der Stellenwert der sozialen Einbindung ist sogar höher als jener von Wohlstand, Berühmtheit und körperlicher Gesundheit.

Auswirkungen von Einsamkeit

Die Einsamkeit kann den Glauben daran zerschmettern, wer wir sind und was aus uns werden soll. Sie ist ein Riss in der Psyche, der gnadenlos und unbarmherzig Schmerzen in Seele und Körper verursacht. Sie ist ein chronisches Gefühl der sozialen Isolation, unabhängig davon, ob wir uns unter vielen Menschen befinden oder alleine sind. Gemäß der Wissenschaft leidet jede fünfte Person in den Industrienationen unter Einsamkeit. Die negativen Auswirkungen auf Körper und Seele sind frappant. Auf der körperlichen Ebene führt sie zu einem Anstieg der Stresshormone, einer Verschlechterung der Immunabwehr, einem Anstieg der Herz-Kreislauferkrankungen, einem beschleunigten Alterungsprozess und zur Häufung von Krebserkrankungen. Auf der psychischen Ebene führt die Einsamkeit zu Schlafstörungen, Angststörungen, Depressionen, Suchtverhalten, Essstörungen und Selbstmord. Soziale Isolation wirkt sich ähnlich schädigend aus wie hoher Blutdruck, Bewegungsmangel, Übergewicht oder Rauchen. Unser menschliches Streben nach sozialer Einbindung ist so tief verwurzelt, dass uns Gefühle der Isolation am klaren Denken hindern können. Wir alle bauen früher oder später körperlich ab, aber Einsamkeit kann den Weg nach unten verkürzen.

Alleinsein vs. Einsamkeit

Wie würde ich Freundschaft definieren? Gute Freunde hören zu, zeigen Interesse und begegnen mir freundlich und respektvoll. Sie sind mir in vielen Bereichen ähnlich,

Alleinsein bedeutet nicht automatisch, sich auch einsam zu fühlen. Viele kreative und produktive Menschen durchleben Phasen des Alleinseins, um ihre beste Leistung abrufen zu können. Zentral ist das Wissen, sozial eingebunden zu sein. Es ist durchaus möglich, dass jemand, der allein lebt, ein stärker unterstützendes soziales Umfeld hat als jemand, der eine Beziehung eingegangen ist. Wer echte Freunde hat, kann ruhig Single sein. Alleinstehende Personen, die sozial eingebunden sind, haben eine um 50 % höhere Überlebenschance als beziehungslose Menschen.

Hürden der Beziehung

Viele junge Menschen sind heutzutage mit der Partnerwahl überfordert. Kommunikationswege (Internet, soziale Netzwerke) und Reisewege (u.a. Flugverkehr) haben die Menschen näher zusammenrücken lassen und ein Überangebot an potentiellen Kandidaten/innen zur Auswahl ermöglicht. Die Angst, die ideale Person zu verpassen (es könnte noch etwas Besseres auf dem Beziehungsmarkt auf mich warten) und die zunehmende Unfähigkeit, sich mit dem zweitbesten zufrieden zu geben, führen dazu, dass viele junge Menschen (und auch ältere Semester) beziehungslos bleiben. Dass jede zweite Ehe geschieden wird, hemmt die Bindungsbereitschaft zusätzlich. Und dennoch sehnen sich viele Menschen nach wie vor nach einer festen und nachhaltigen Partnerschaft. Ältere Personen leiden eher darunter, dass die gegenwärtige Gesellschaft immer mehr nach Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit strebt und die sozialen Strukturen für gemeinschaftliche Begegnungen zunehmend abhandengekommen sind. Das Ableben von Freunden und Familie, die eigenen festgefahrenen Muster der Persönlichkeit und die körperlichen Gebrechen im Alter machen es vielen älteren Personen schwer, ebenfalls neue Bindungen einzugehen und der drohenden Einsamkeit entgegenzuwirken.

Wege aus der Einsamkeit

Einer der ersten Schritte aus der Einsamkeit heißt Selbstfürsorge

Sich selber und seinem Körper Gutes tun. Dabei helfen regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung und eine gesunde Schlafhygiene.

Als zweiten Schritt gilt es

einen gesunden Umgang mit der eigenen erhöhten Verletzlichkeit und Bedrohlichkeit als einsame Person zu finden. Schrauben Sie die Erwartungen an sich und Ihre Umgebung zurück! Machen Sie kleine Schritte auf Ihre Umgebung zu und versuchen Sie, das Hier und Jetzt zu genießen. Ganz im Sinne der Achtsamkeit. Sie erkennt unseren körperlichen und geistigen Zustand so an, wie er in diesem Augenblick ist, macht uns offener und empfänglicher für das, worum es in diesem Moment geht. Sie durchbricht unser reines Reagieren, sie schaltet den Autopiloten ab und gibt uns ein Höchstmaß an Kontrolle zurück. Sie ist ein Instrument, das unsere Handlungsmöglichkeiten erweitert. Sie hilft uns, der Gegenwart wertefrei zu begegnen und unseren Gedankenballast abzulegen. Sie kann eingefahrene Gedankenmuster durchbrechen und uns für Neues offener machen. Alles, was Sie dazu benötigen, sind täglich fünf bis zehn Minuten, um Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Atem zu richten, ein- und auszuatmen und dabei Ihre Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle bewusst wahrzunehmen, ohne diese zu bewerten. Das hat nichts mit Esoterik zu tun, sondern beruht auf wissenschaftlichen Grundlagen.

Ein weiterer Schritt aus der Einsamkeit ist

die Pflege positiver Emotionen. Sie lassen sich jedoch nicht diktieren. Ratschläge wie «Sei doch einfach mal ein bisschen fröhlicher!» helfen nicht weiter. Wir können jedoch die Voraussetzungen schaffen, um positive Emotionen entstehen zu lassen. Setzen Sie sich Situationen aus, in denen positive Erfahrungen real gemacht werden können. Engagieren Sie sich ehrenamtlich z. B. in einem Zentrum für Obdachlose, einem Hospiz, einer Kindertagesstätte oder einem Alters und Pflegeheim. Lesen Sie Blinden vor, bringen Sie älteren Menschen den Umgang mit dem Computer bei, geben Sie Kindern Nachhilfeunterricht oder helfen Sie bei Wohltätigkeitsveranstaltungen. Es gibt eben doch nichts Gutes, außer man tut es.

Viertens

kann uns die einfache Erkenntnis, dass wir keine passiven Opfer sind, wir durchaus einen gewissen Einfluss haben und wir unsere Situation verändern können, indem wir unser Denken, unsere Erwartungen und unser Verhalten gegenüber anderen verändern, erstaunlich viel Kraft verleihen. Suchen Sie sich dabei eine professionelle Hilfskraft (Seelsorger, Psychotherapeuten), die Sie auf diesem Veränderungsweg unterstützt.

Als fünften Schritt

möchte ich Sie ermutigen, Beziehungen zu suchen, die Ihnen guttun, also Personen, die ähnliche Ansichten teilen oder sich in ähnlichen Lebensabschnitten befinden. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Ähnlichkeit im Vergleich zu Gegensätzlichkeit hinsichtlich der Nachhaltigkeit von partnerschaftlichen Beziehungen besser abschneidet. Seien Sie sich bewusst, dass soziale Beziehungen immer komplex sind. Auch die besten Freunde und die glücklichsten Paare sind nicht immer einer Meinung und verletzen einander von Zeit zu Zeit. Und dennoch beginnt jeder Weg mit dem ersten Schritt. Die Straße zur Heilung aus der Einsamkeit muss man von Tag zu Tag bauen.

Ein weiterer Schritt

für den Weg aus der Einsamkeit ist der Humor. «Am dringendsten benötigt der Mensch den Humor, wenn es ihm schlecht geht», schreibt der Psychologe Willibald Ruch, der seit vielen Jahren an der Universität Zürich die Wirkung der Heiterkeit erforscht. Sein Kollege Robin Dunbar von der Universität Oxford ergänzt, dass vor allem gemeinsames Lachen ein probates Mittel ist, um negative Lebensereignisse besser zu bewältigen. Schaffen Sie sich eine Umgebung (Bücher, Filme, Theater, Zirkus, Personen), die Sie zum Lachen anregt.

Zuletzt

hat sich gezeigt, dass der regelmäßige Besuch eines Gottesdienstes die soziale Einbindung erhöht und aus der Einsamkeit führen kann.

Fazit

Der berühmte US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain (1835-1910) schrieb einmal: «Die beiden wichtigsten Tage deines Lebens sind der Tag, an dem du geboren wurdest, und der Tag, an dem du herausfindest, warum.» Sinn kann auf dem Weg aus der Einsamkeit einen bedeutenden Beitrag leisten. Der Neurowissenschaftler Gerald Hüter unterstreicht in diesem Zusammenhang die Bedeutsamkeit des Kohärenzsinns. Er besteht aus dem Urvertrauen, etwas zu können, aus der Gewissheit, dass mir, wenn ich überfordert bin, geholfen wird, und aus der Überzeugung, dass bei schweren Schicksalsschlägen doch etwas «Gutes» am Ende entstehen kann. Der bekannte Neurologe und Psychiater Viktor E. Frankl, der Auschwitz überlebt hat, bezeichnete die Sinnhaftigkeit als den Dreh- und Angelpunkt für das Überleben. Wer sein Leben als bedeutsam empfindet, lebt nicht nur zufriedener, sondern womöglich auch länger. In den USA konnte in einer Studie (2015) an herzkranken Patientennachgewiesen werden, dass das Sterberisiko bei jenen Personen um 20 % tiefer lag, die ihr Leben als sinnvoll empfanden – im Vergleich zu Personen, die ihrem Dasein keine besondere Bedeutung zusprachen. Soziale Einbindung verschafft Sinngebung und beugt der Einsamkeit vor. Wagen Sie den Schritt auf Ihre Mitmenschen zu! Es lohnt sich!

Robbie Pfandl

M. SC. Psychologie

Leben & Gesundheit Ausgabe 6/2017